Inhaltsverzeichnis
Kernbotschaften
- Die überarbeitete Architektur der EU-Klima- und Energiepolitik
Mit dem Fit-for-55-Paket hat die Europäischen Union das Ambitionslevel erhöht und ein umfassendes Maßnahmenpaket verabschiedet, das nicht nur eine Ausweitung des Emissionshandels, sondern auch ergänzende technologiespezifische Regelungen beinhaltet. Dieser Politikmix kann das Risiko eines übermäßig stark steigenden CO2-Preises verringern, sofern die Maßnahmen in die gleiche Richtung wirken, ausreichend finanzielle Mittel (z.B. für Subventionen) bereitstehen und die politische Akzeptanz (z.B. für Emissionsstandards für Autos) gegeben ist. - Konsistenz stärken und Fragmentierung reduzieren
Die historisch gewachsene EU-Klimapolitik weist Überschneidungen sowie Lücken auf, die Ineffizienzen und Verzerrungen verursachen. Insbesondere die Parallelität von ETS 2 und Emissionshandelsrichtlinie (ESR) birgt Risiken, da unterschiedliche sektorale CO2-Preise zu ungleichen Belastungen führen. Eine schrittweise Angleichung der Systeme könnte Effizienzgewinne von bis zu 22 % ermöglichen und den ETS-2-Preis stabilisieren. - Den Emissionshandel fit für das Endgame machen
Der EU-ETS und ETS 2 müssen langfristig stabile Preissignale setzen, um Unternehmen eine verlässliche Planungsgrundlage zu geben. Die Marktstabilitätsreserve (MSR) soll Schwankungen ausgleichen, könnte aber aufgrund unsicherer Marktreaktionen eher die Knappheit verstärken. Eine Reform der MSR mit dynamischen Schwellenwerten oder einem alternativen Stabilitätsmechanismus wäre sinnvoll. - Einen EU-weiten Wasserstoffmarkt entwickeln und in den Energiemarkt integrieren
Wasserstoff ist entscheidend für schwer elektrifizierbare Sektoren, doch es fehlt eine kohärente EU-Strategie zur Förderung von grünem Wasserstoff. Die unzureichende Bepreisung von Methanemissionen verzerrt den Wettbewerb zugunsten fossiler Energieträger. Eine stärkere Integration des Wasserstoffmarkts und die Berücksichtigung der „Upstream“-Emissionen im ETS könnten den Umstieg auf klimafreundliche Alternativen beschleunigen. - Die räumliche Dimension der EU-Energiepolitik berücksichtigen
Mit der Novelle der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) wurde ein Rahmen für die räumliche Planung und Genehmigung von Energieprojekten geschaffen. Die Einführung von „Beschleunigungsgebieten“ und „multifunktionalen Flächen“ soll den Flächenverbrauch optimieren und Nutzungskonflikte entschärfen. Hierfür sollten die Mitgliedstaaten eine ganzheitliche Landnutzungsplanung verfolgen. - Die Finanzierung der Klimaneutralität sichern
Die Transformation zur Klimaneutralität erfordert hohe Anfangsinvestitionen, die über bestehende EU-Finanzierungsinstrumente nicht gedeckt werden können. Sinkende Einnahmen aus der Energiebesteuerung und steigende soziale Ausgleichsmaßnahmen verschärfen die Finanzierungslücke. Eine stärkere Zentralisierung grüner Industrieinvestitionen auf EU-Ebene könnte Effizienzgewinne bringen, erfordert jedoch verlässliche und nachhaltige Finanzierungsquellen wie Eigenmittel oder gemeinsame Anleihen.
1. Einführung
Autorinnen und Autoren: Benjamin Görlach (Ecologic), Michael Pahle (PIK), Ronja Busch und Jana Nysten (Stiftung Umweltenergierecht)
Mit dem Fit-for-55-Paket hat die EU das Ambitionsniveau ihrer Energie- und Klimaziele für 2030 erhöht. Bis dahin will sie die Treibhausgasemissionen um mindestens 55 % unter das Niveau von 1990 senken, einen Anteil von mindestens 42,5 % Erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch erreichen, die Energieeffizienz um 11,7 % steigern und ein Verbundziel des Stromnetzes von 15 % erreichen. Die Ziele spiegeln das Engagement der EU für eine Energiewende wider – oder, genauer gesagt, für die Umstellung der gesamten EU-Wirtschaft auf Klimaneutralität. Um diese Ziele zu erreichen und die Transformation in Gang zu bringen, hat die EU ihren Rechtsrahmen in wichtigen Aspekten geändert: Die Ziele sind ehrgeiziger geworden und auf mittel- und langfristige Entwicklungen ausgerichtet. Der Rahmen ist auch umfassender geworden, beispielsweise durch die Ausweitung des Emissionshandels auf mehr Sektoren und Emittenten und diversifizierter, aufgrund von neuen Ansätzen zur Abschwächung von Verteilungseffekten oder zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Industrien in der EU.
Nach der Verabschiedung der wichtigsten Rechtsakte des Fit-for-55-Pakets müssen die EU-Mitgliedstaaten die neuen europäischen Vorschriften umsetzen, während die Kommission die Umsetzung und das Funktionieren des neuen Rahmens überwachen wird. Gleichzeitig muss die Kommission noch bestimmte Vorschriften durch delegierende Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte präzisieren. Insgesamt werden die kommenden Jahre zeigen, ob der neue Rahmen wirksam ist, oder ob zusätzliche Änderungen erforderlich sind, um beispielsweise die Kohärenz der EU-Klimapolitik zu verbessern und die Zielerreichung zu gewährleisten. In ihrem Kern ist die EU-Klimapolitik insofern pfadabhängig, als sie weiterhin in einer historisch gewachsenen Struktur agiert, die auf politischen Entscheidungen der Vergangenheit und rechtliche und/oder institutionelle Vorgaben basiert, anstatt einem zentralen Prinzip zu folgen.
Gleichzeitig befindet sich die EU jedoch bereits mitten in der Diskussion über neue Klimaziele für 2040 und hat mit der Entwicklung einer EU-Industriepolitik begonnen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie mit der Dekarbonisierung verbindet. Da sich die EU verpflichtet hat, bis 2050 klimaneutral zu werden und danach Netto-Negativemissionen zu erreichen, wird die Schaffung eines geeigneten Rahmens für 2040 von entscheidender Bedeutung sein.
Es werden nun mehrere Elemente sichtbar, die die Energie- und Klimaarchitektur der EU nach 2030 prägen werden: Wie sollte die Gesamtarchitektur der EU-Klimapolitik aussehen, wenn wir in eine Phase rasch sinkender Emissionen (und Obergrenzen für das Emissionshandelssystem) eintreten? Welche ergänzenden Maßnahmen sind erforderlich, um das Funktionieren des Kohlenstoffpreises zu gewährleisten, seine Wirkung zu verstärken und mögliche Nebeneffekte abzumildern? Welche politischen Überschneidungen und Redundanzen sind vertretbar, und welche müssen beseitigt werden, damit der Policy-Mix effizient funktioniert? (Wie lange) sollte die EU zwei getrennte Emissionshandelssysteme beibehalten, und wann sollten sie zu einem einheitlichen System konvergieren? Welche Rolle spielt Wasserstoff im Energiesystem und auf dem EU-Energiemarkt, welche Marktregeln und welche Infrastruktur werden benötigt?
Diese und andere Fragen müssen in einem wirtschaftlichen, finanziellen und (geo-)politischen Umfeld angegangen werden, das schwieriger oder sogar feindlicher geworden ist und die EU selbst und ihre Institutionen, aber auch ihre Rolle in der Welt in Frage stellt. In dieser Situation stellt sich vor allem die Frage, wie die Umstellung auf eine wirklich nachhaltige Energieversorgung – und Wirtschaft – in der Zukunft finanziert und wie die Kosten dafür verteilt werden können. Die Ausgangssituation ist alles andere als rosig: Die wirtschaftlichen Aussichten der EU sind angesichts der anhaltend hohen Energiekosten und der zunehmenden protektionistischen Tendenzen in vielen Regionen der Welt düster. Die jüngste Einführung von Zöllen durch die USA stellt in dieser Hinsicht eine Eskalation dar und schadet den europäischen Exportgütern unmittelbar. Dies bedeutet, dass weniger Mittel zur Verfügung stehen, um Investitionen in die Umstellung auf Klimaneutralität zu finanzieren, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich. Andere Ausgabenposten konkurrieren um diese öffentlichen Mittel: insbesondere die Ausgaben für Sicherheit, aber auch zunehmend die Ausgaben für die Anpassung an Auswirkungen des Klimawandels. Da der Klimawandel selbst Gewinner und Verlierer hervorbringt, ist die Unterstützung schwacher Gruppen und Regionen beim Übergang von entscheidender Bedeutung für die Sicherung der Akzeptanz. Viele der notwendigen Investitionen in die neuen, sauberen Energielösungen sind zu Beginn kapitalintensiv werden aber letztlich billiger sein als das derzeitige fossile System. Dies erfordert aber zunächst massive Investitionen in Erzeugungsanlagen, Geräte und Infrastruktur. In der Zwischenzeit hat der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien im Europäischen Parlament der ehrgeizigen Energie- und Klimapolitiken geschadet.
So düster die Lage auch sein mag, sie unterstreicht, wie wichtig es ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen und die Politik so zu gestalten, dass sie möglichst effizient funktioniert – insbesondere in Zeiten knapper Kassen. Auch wird klar, dass Reibungen und Überschneidungen vermieden werden sollten, um Marktkräfte zu nutzen, wo immer dies möglich ist, einschließlich des Potenzials des EU-Binnenmarktes, und auf integrierte EU-weite Ansätze hinzuarbeiten, statt auf einen Flickenteppich schlecht koordinierter nationaler Lösungen.
Vor diesem Hintergrund werden in diesem Bericht verschiedene Facetten der EU-Energie- und Klimaarchitektur für 2030 und 2040 untersucht. Er erörtert Potenziale und Schwächen im Hinblick auf die Transformation der EU zur Klimaneutralität. Dabei betrachten wir sowohl einige der wichtigsten politischen Instrumente und deren mögliche Überschneidungen und Wechselwirkungen als auch übergreifende Herausforderungen.
Die Ergebnisse werden in Form von kurzen Zusammenfassungen der zugrundeliegenden Forschung präsentiert und sollen keine erschöpfende Diskussion darstellen.
Die Beiträge in diesem Bericht gliedern sich in zwei Hauptforschungsbereiche, die jeweils in einem eigenen Kapitel vorgestellt werden:
- Zunächst geht es um die Energie- und Klimaarchitektur der EU, die Mechanismen zur Erreichung der 2030-Ziele, eine Systemanalyse für die 2040-Ziele, die Rolle der Kohlenstoffmärkte und die Entwicklungsperspektiven und vieles mehr.
- Zweitens die Frage der Finanzierung, einschließlich der Rolle öffentlicher und privater Mittel, der Verteilungsaspekte und der Fragen im Zusammenhang mit der Finanzierung der industriellen Dekarbonisierung in der EU.
Jedes Unterkapitel enthält Kästen mit Schlüsselbotschaften. Der vollständige Bericht liegt in englischer Sprache vor und ist auf ariadneprojekt.de/en veröffentlicht.
2. Schlussfolgerungen
Autoren: Benjamin Görlach (Ecologic), Ulrich Fahl (IER), Michael Pahle (PIK)
1) Die überarbeitete Architektur der EU-Energie- und Klimapolitik
Mit der Verabschiedung des Fit-for-55-Pakets hat die EU ein ziemlich umfassendes Bündel von Maßnahmen zur Erreichung ihrer Energie- und Klimaziele für 2030 eingeführt. Der überarbeitete Policy-Mix umfasst technologieneutrale Ansätze zur Verringerung der Treibhausgas-(THG)-Emissionen, vor allem das bestehende EU-Emissionshandelssystem und der neue ETS 2. Er verpflichtet die Mitgliedstaaten, die THG-Emissionsreduktionsziele im Rahmen der ESR zu erreichen, und erweitert technologiespezifische regelbasierte Ansätze wie strengere Kraftfahrzeugeffizienzstandards oder Vorschriften zur Energieeffizienz von Gebäuden. Während das Anspruchsniveau der Ziele erhöht wurde, ist die EU-Energie- und Klimapolitik auch umfassender geworden: Sie enthält nun Elemente, um einige der negativen Nebenwirkungen der Klimapolitik abzumildern, insbesondere in Bezug auf Verteilungseffekte (sozialer Klimafonds), regionale Ungleichgewichte (Fonds für gerechten Übergang) und Wettbewerbsfähigkeit (Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), Innovationsfonds).
Der Emissionshandel ist nach wie vor der Eckpfeiler der EU-Klimapolitik und einer der stärksten Mechanismen zur Einhaltung der Vorschriften – mit dem ETS 2 werden etwa 80 % der Treibhausgasemissionen in der EU einer festen Obergrenze unterliegen. Sowohl das EU-Emissionshandelssystem als auch der ETS 2 legen einen äußerst ehrgeizigen Emissionsreduktionspfad auf dem Weg zur Klimaneutralität fest, mit jährlichen Reduktionen von 4-5 %. Die Einhaltung dieses Ziels allein durch den Emissionshandel würde sehr hohe Kohlenstoffpreise und eine feste und glaubwürdige Verpflichtung zur Aufrechterhaltung dieser Kohlenstoffpreise unter allen Umständen voraussetzen. In Anbetracht der damit verbundenen politischen Risiken ist es angebracht, ergänzende politische Maßnahmen in den Mix einzubeziehen, die in die gleiche Richtung wie der Emissionshandel gehen und ihn ergänzen, indem sie die Transformation der Energie- und Mobilitätssysteme vorantreiben. Wenn diese ergänzenden Maßnahmen jedoch wegen mangelnder politischer Akzeptanz (Emissionsstandards für Fahrzeuge/Ausstieg aus fossilen Verbrennungsmotoren) oder wegen fehlender finanzieller Mittel (Investitionszuschüsse) in Frage gestellt werden, erhöht sich der Druck auf den Kohlenstoffpreis als „Politik der letzten Instanz“.
2) Verbesserung der Kohärenz und Verringerung der Fragmentierung der Energie- und Klimapolitik
Die Energie- und Klimapolitik der EU hat sich historisch entwickelt und wurde nicht nach einem gemeinsamen Konzept und kohärenten Grundsätzen konzipiert. Sie spiegelt daher mehrere (konkurrierende) Ansätze wider. Dies kann zu Überschneidungen und Lücken in der EU-Politik führen, was wiederum zu gemischten Signalen oder Verzerrungen auf dem Markt führen kann. Ein Beispiel hierfür sind die Überschneidungen zwischen dem ETS 2 und der ESR – aber auch die Tatsache, dass die EU parallel zwei getrennte Emissionshandelssysteme betreibt, in denen Emittenten in verschiedenen Sektoren unterschiedliche Preise zahlen müssen. Solche Unstimmigkeiten verringern die Gesamteffizienz des Systems und bergen mehrere Risiken: Erstens erhöhen sie die Spannungen in der Architektur, da getrennte Systeme mit (impliziten oder expliziten) Kohlenstoffpreisen dazu führen, dass Emittenten in verschiedenen Sektoren mit unterschiedlichen Vermeidungskosten konfrontiert und somit unterschiedlich belastet werden. Zweitens birgt die Fragmentierung das Risiko von Verzerrungen, insbesondere wenn die Unsicherheit mit dem Ehrgeiz steigt: Da die Emittenten immer ehrgeizigere Schritte zur Emissionsreduzierung unternehmen müssen, gibt es weniger Präzedenzfälle und weniger Wissen über die verfügbaren Minderungsmaßnahmen, ihre Wirksamkeit und ihre Kosten. Drittens birgt die komplexe Architektur in Verbindung mit Informationsasymmetrien und begrenzten Verwaltungskapazitäten die Gefahr eines Politikversagens. Anstatt die Fragmentierung beizubehalten (oder sogar zu verstärken), sollte die EU-Klimapolitik daher eine schrittweise Konvergenz der Erfüllungsmechanismen anstreben, die von einer langfristigen Vision einer wirtschaftsweiten Kohlenstoffbepreisung geleitet wird. Bei der Annäherung an dieses Ziel können schrittweise Konvergenzmaßnahmen wie Wechselkurse auf kontrollierte Weise architektonische Spannungen abbauen. In Anbetracht der derzeitigen politischen Situation scheint es jedoch eher unwahrscheinlich, dass eine Konvergenz erreicht wird.
Die Risiken und Kosten solcher Unstimmigkeiten werden durch die Überschneidung zwischen dem künftigen ETS 2 und dem ESR veranschaulicht. Was die erfassten Emissionen anbelangt, so fallen die ETS-2-Emissionen vollständig in den Geltungsbereich des ESR. Darüber hinaus sehen beide Instrumente Flexibilität durch den grenzüberschreitenden Handel mit Emissionszertifikaten vor – im Falle des ETS 2 zwischen Emittenten und im Falle der ESR zwischen nationalen Regierungen. Der Handel mit ESR-Zertifikaten wurde in der Vergangenheit jedoch nur selten genutzt. Wenn dies so bliebe, würde das ETS 2 unwirksam, was zu erheblichen Effizienzverlusten und wirtschaftlichen Kosten führen würde. Anders ausgedrückt: Wenn es auch im Rahmen der ESR einen völlig flexiblen Handel gäbe, würde das ETS 2 beträchtliche Effizienzgewinne bringen. Diese könnten 16-22 % der politischen Kosten einsparen und infolgedessen den Aufwärtsdruck auf den ETS-2-Preis abschwächen. Im Gegensatz dazu ist der Effizienzverlust durch die Beibehaltung von zwei getrennten Emissionshandelssystemen begrenzter: Verglichen mit dem theoretischen Ideal eines einzigen Kohlenstoffpreises für alle Sektoren würde ein wirksames ETS 2 immer noch 81-98 % der möglichen Effizienzgewinne erzielen – mit anderen Worten: die Trennung der Systeme bedeutet, dass 2-19 % der Effizienzgewinne entgehen.
3) Den Emissionshandel für das Endgame fit machen
Als zentrale Instrumente zur Einhaltung der Vorschriften ist es von entscheidender Bedeutung, dass das EU-ERS und das ETS 2 ein stabiles und glaubwürdiges Preissignal aussenden, das es den betroffenen Akteuren ermöglicht, künftige Bedingungen zu antizipieren – umso mehr, als die ETS in eine Phase rasch sinkender Obergrenzen eintreten. Die Marktstabilitätsreserve (MSR) dient als zentraler Stabilitätsmechanismus in beiden Emissionshandelssystemen, mit dem Schocks und Unsicherheiten wirksam begegnet werden soll. Doch je nachdem, wie weit die Marktakteure bei ihren Entscheidungen in die Zukunft blicken (d.h. welchen Diskontsatz sie anwenden), wird sich ihr Bank- und Absicherungsverhalten in Erwartung künftiger Knappheit unterscheiden. Diese Unterschiede machen es schwierig, einen angemessenen „Absicherungskorridor“ für MSR zu bestimmen. Das Problem der Kalibrierung des Absicherungskorridors könnte möglicherweise dadurch gelöst werden, dass die MSR-Schwellenwerte für die Aufnahme und die Entnahme dynamisch gestaltet und verfeinerte Indikatoren verwendet werden. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung kann die MSR jedoch eher die erwartete Knappheit verstärken. Es erscheint ratsam, sie durch einen geeigneteren Mechanismus zu ersetzen.
4) Entwicklung eines EU-weiten Wasserstoffmarktes und dessen Integration in den EU-Energiemarkt
Um die Treibhausgasemissionen bis 2040 auf 85-92 % unter das Niveau von 1990 zu senken, müssen Wind- und Sonnenenergie beschleunigt eingesetzt und die meisten Endanwendungen in den Bereichen Mobilität, Gebäude und Industrie elektrifiziert werden. Für die Verwendungszwecke und Anwendungen, bei denen eine Elektrifizierung wirtschaftlich, technologisch oder politisch nicht umsetzbar ist – wie bei der Stahlherstellung, in Teilen der chemischen Industrie oder in der Luftfahrt – bieten Wasserstoff oder aus Wasserstoff gewonnene synthetische Kraftstoffe mögliche Lösungen. Dennoch fehlt es der EU noch an einer umfassenden Strategie für den Einsatz von kohlenstoffarmem Wasserstoff als Übergangslösung zur Unterstützung der Markteinführung von erneuerbarem Wasserstoff. Die Wasserstoffproduktion ist zwar durch den EU-ETS abgedeckt, aber das Preissignal reicht nicht aus, um das Kostengefälle zwischen erneuerbarem/kohlenstoffarmem Wasserstoff und Erdgas zu überwinden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass ein erheblicher Teil der Emissionen von konventionellem Wasserstoff Methanemissionen in der vorgelagerten Phase sind, also bei der Förderung und dem Transport von Erdgas entstehen. Methanemissionen werden jedoch im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems nicht bepreist, außerdem fallen sie meist außerhalb der EU an. Eine Ausweitung des EU-Emissionshandelssystems (und der CBAM) auf solche vorgelagerten Emissionen würde die Klimaauswirkungen genauer internalisieren und zu einem faireren Vergleich zwischen kohlenstoffarmem und erneuerbarem Wasserstoff führen.
Die Entwicklung eines integrierten Marktes für Wasserstoff in ganz Europa bietet erhebliche Effizienzgewinne, hat aber auch Verteilungseffekte: Vor allem die Strompreise in Ländern mit einem hohen Potenzial an Erneuerbaren Energien wären höher als ohne Wasserstoffhandel. Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit der wichtigsten Inputs und der hohen Kosten werden diese Optionen jedoch begrenzt bleiben und sollten strategisch genutzt werden. Eine Empfehlung aus der Forschung lautet daher, die Verteilungseffekte der Wasserstoffmärkte zu berücksichtigen und vorgelagerte Emissionen in den ETS zu integrieren, um kohlenstoffarme Energiewandlungen zu unterstützen.
5) Die räumliche Dimension der EU-Energiepolitik anerkennen
Mit der Novellierung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) im Jahr 2023 zielt die Richtlinie nicht mehr nur auf die Förderung von Projekten für Erneuerbare Energien ab, sondern schafft einen umfassenden Rahmen, der auch Aspekte der Raumplanung und der administrativen Genehmigungsverfahren umfasst. Zu den Hauptmerkmalen gehört die Ausweisung von „Beschleunigungsgebieten“, um der Landnutzung für Erneuerbare Energien Vorrang einzuräumen, aber auch ein stärker integrierter Ansatz für die Raumplanung, einschließlich der Schaffung von „multifunktionalen Gebieten“, um die Überplanung von Land und die damit verbundene Verschärfung des Drucks auf diese endliche Ressource zu vermeiden.
Dies stellt eine bedeutende Entwicklung dar, da die EU zum ersten Mal einen ständigen Rahmen für die Planung und Genehmigung von Projekten für Erneuerbare Energien geschaffen hat. Um diese Bestimmung besser umsetzen zu können, sollten die Mitgliedstaaten eine ganzheitliche Flächennutzungspolitik betreiben, die der multifunktionalen Flächennutzungsplanung Vorrang einräumt. Auf diese Weise können sie dem sich verschärfenden Wettbewerb um knappe Flächen zwischen dem Bedarf an Infrastruktur für Erneuerbare Energien und anderen Nutzungen besser begegnen.
6) Finanzierung des Übergangs zur Klimaneutralität
Die EU steht vor einer wachsenden Finanzierungsherausforderung: Die Umstellung auf Klimaneutralität erfordert öffentliche und private Investitionen in allen Teilen der Wirtschaft. Viele dieser Investitionen – zum Beispiel in neue Energie- und Verkehrsinfrastrukturen oder in die Dekarbonisierung der Industrie – sind kapitalintensiv und werden im Voraus getätigt: Während sie sich letztendlich durch geringere Betriebsausgaben amortisieren sollen, erfordern sie eine (erhebliche) Anfangsinvestition. Die Einnahmen aus den wichtigsten EU-Finanzierungsinstrumenten reichen schon jetzt nicht aus, um (den öffentlichen Anteil) der notwendigen Investitionen zu tätigen. Es wird erwartet, dass sich diese Lücke im Laufe der Zeit noch vergrößern wird. Die folgenden Faktoren verschärfen die Situation:
- Auf Länderebene tragen die Nettobeitragszahler zum EU-Haushalt zunehmend die Verantwortung, die EU-Finanzierungslücke aus inländischen Ressourcen zu schließen. Besonderer Druck entsteht durch die sinkenden Einnahmen aus der Energiebesteuerung – eine allgemeine Herausforderung für europäische Länder, die erfolgreich eine Energiewendepolitik umsetzen, auch wenn das Ausmaß der Auswirkungen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ist.
- In dem Maße, wie die Kosten des Übergangs steigen, steigt auch der Bedarf an sozialen Unterstützungsmaßnahmen in Form von Ausgleichszahlungen oder Hilfen für besonders belastete Haushalte. Die öffentliche Unterstützung für ehrgeizige Klimaziele ist in ganz Europa nach wie vor groß, aber die allgemeine und abstrakte Zustimmung zu den Klimazielen schlägt sich nicht in der Unterstützung konkreter Maßnahmen nieder, die zur Erreichung dieser Ziele erforderlich sind. Um diese Diskrepanz zu beheben, ist eine zweite Welle von EU-Maßnahmen erforderlich, die auf der Grundlage einer Verteilungsanalyse sozioökonomische Druckpunkte angehen.
- Um die Position der europäischen Industrie im globalen Wettlauf um klimaneutrale Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, ist mehr öffentliche Unterstützung erforderlich – nicht zuletzt, um mit der umfangreichen Unterstützung gleichzuziehen, die den Herstellern anderswo zur Verfügung steht. Während die EU-Hersteller bei einigen Technologien und Wertschöpfungsketten noch gut aufgestellt sind, fällt die EU bei anderen zurück. Ein Grund dafür sind die finanziellen Ressourcen: Die EU stellt nur mäßige Finanzmittel für die Förderung wichtiger sauberer Technologien und die Unterstützung des industriellen Wandels bereit, die weit unter dem Umfang liegen, der zur Deckung des Investitionsbedarfs erforderlich ist. Trotz einer relativ starken Leistung in Forschung und Entwicklung bestehen erhebliche Lücken in den Phasen der Skalierung und der Einführung, die für die Umsetzung von Innovationen in eine breite Wirkung entscheidend sind.
Die öffentliche Hand stellt eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, um den Bedarf an kohlenstoffarmen Investitionen zu decken, doch die Wirksamkeit dieser Instrumente variiert je nach Art der Finanzierung und der Umsetzung. In mehreren Fällen könnten die verfügbaren Mittel effizienter eingesetzt werden, wenn sie auf EU-Ebene zentralisiert würden: So könnte die Ausarbeitung und Zuweisung von Finanzinstrumenten für grüne Industrieinvestitionen auf EU-Ebene erhebliche Effizienzgewinne bringen, insbesondere wenn die Mittel im Rahmen von Wettbewerbsverfahren verteilt werden. Dieser Ansatz verbessert nicht nur die Ressourcenzuweisung, sondern mindert auch die Risiken einer wirtschaftlichen und politischen Fragmentierung. Um diese Vorteile zu erreichen, ist eine verlässliche und dauerhafte Finanzierung auf EU-Ebene erforderlich, möglicherweise durch Mechanismen wie Eigenmittel oder gemeinsame Anleihen.
Die knapper werdenden öffentlichen Budgets machen es erforderlich, sich darauf zu konzentrieren, dass Ressourcen effizient genutzt, marktorientierte Elemente und Wettbewerbsprozesse, wo immer möglich, unterstützt sowie Verzerrungen und Fragmentierung dort abgebaut werden, wo sie effiziente Ergebnisse verhindern. In vielen Fällen können EU-Lösungen effizienter sein als nationale Regelungen, da sie den Anwendungsbereich erweitern und das Potenzial des Binnenmarktes nutzen.
Autorinnen & Autoren
Dr. Ulrich Fahl
Universität Stuttgart - Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung
Nikolas Messerschmidt
Universität Stuttgart – Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung
Dimitrios Tsoutsoulopoulos
Universität Stuttgart – Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung